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31.03.17

Old-School-Erleuchtung

Bei mir hat es 'klick' gemacht. Ich bin gespannt, ob sich dieser Moment - diese Erkenntnis - in zukünftigen Spielen niederschlägt.

Die Old-School-Rollenspiel-Fibel erscheint bald. Zum Gratisrollenspieltag 2017 wird das Heftchen in vielen Rollenspielläden ausliegen. Es hat Spaß gemacht, Daniels Rohübersetzung zu korrigieren (auch wenn ich froh bin, dass sich ein paar Leute gefunden haben, die meine halbgaren Korrekturen korrigiert haben - Textarbeit ist doch was Spannendes ...).

In der Fibel beschreibt Matt Finch (Frog God Games), was Old-School-Rollenspiel von anderen, modernen Rollenspielen unterscheidet. Dem modernen Spieler müssen die alten Regeln unvollständig und chaotisch vorkommen. Nun, sie waren unvollständig und chaotisch, keine Frage, doch mit den Retroklonen hat sich zumindest letzteres gebessert. Und was das unvollständig angeht ... das ist Meinungssache, wie uns Matt Finch anschaulich erläutert. Er erklärt in seiner Fibel mehrere Zen-Momente des Old-School-Spiels. Der erste lautet: "Rulings, Not Rules". Ich zitiere den ersten Absatz:
Im Old-School-Rollenspiel trifft der Spielleiter die meiste Zeit Entscheidungen (Rulings), ohne sich auf festgelegte Regeln zu beziehen (Not Rules). Es ist leicht, die Worte dieses Satzes zu verstehen, um ihn aber wirklich zu begreifen, bedarf es einer Art Erleuchtung.
Die "Erleuchtung" hatte ich vor ein paar Wochen. Zurzeit spielen wir ab und zu The Powers Hack. Dabei handelt es sich um einen Superheldenhack von The Black Hack, einem Old-School-Mini-Regelwerk, das in bestimmten Kreisen gerade total hipp ist. Da ich schon lange nach einem Superheldenregelwerk suche, das ich nicht wochenlang studieren muss, um all die verschiedenen Kräfte zu begreifen, das aber dennoch eine vernünftige Auswahl derselben bietet, habe ich mir TPH gekauft. Mal abgesehen davon, dass es grafisch unter aller Sau ist, war ich auch inhaltlich zunächst enttäuscht. Mein erster Eindruck war, ein grob zusammengezimmertes, nicht getestetes System erhalten zu haben. Die Charakterklassen unterscheiden sich wenig und sind generell eher langweilig. Die Superkräfte der Figuren sollen ausgewürfelt werden. Man würfelt in zwei Tabellen und erhält dann, sagen wir Telekinese und Wetterkontrolle oder Unsichtbarkeit und Laseraugen. Die Beschreibungen der Superkräfte beschränken sich auf einen kurzen Satz: "Der Charakter kann sich unsichtbar machen." Oder: "Der Charakter kann Dinge mit seinem Geist bewegen."

Sofort ging mein New-School-Gehirn an: Welches Gewicht kann er mit seinem Geist heben? Wie schnell bewegt er die Dinge vorwärts? Kann er sich selbst anheben?

Inzwischen gibt es einen etwas ausgefeilteren Superheldenhack (The Super Hack), doch als sich die Gelegenheit ergab, ein Abenteuer zu leiten, das mir sehr gut gefällt (The Power of Fear), ergriff ich die Möglichkeit. TPH erschien mir einfacher. Fünf bis zehn Minuten Werte und Kräfte auswürfeln, Name und Beschreibung wählen und nochmal vier Minuten Regeln erklären. Los geht's. Das erschien mir wünschenswert und da ich mit Freunden spielen wollte, hätte es auch ruhig schiefgehen können, ohne dass es mir hätte peinlich sein müssen.

Und da kam sie, meine Zen-Erleuchtung. Einer der Spieler würfelte Telekinese und Insektenmimikry. Jetzt mussten Entscheidungen getroffen werden. Ich legte fest, dass er mit der Telekinese maximal ein Auto anheben kann. Die Bewegungsgeschwindigkeit hängt vom Gewicht ab - je schwerer desto langsamer. Das Mimikry wird folgendermaßen beschrieben: "Character has the abilities of an insect (Wall crawling, Hard Shell etc)." Wir überlegten gemeinsam, was für ein Insekt er darstellen könnte, und er entschied sich für einen Skarabäus - womit auch sein Name klar war: Dr. Scarab. Wir legten fest, dass sein Insektenpanzer zwei Punkte Rüstung gibt, die abweichend von den normalen üblichen Rüstungsregeln bei jedem Schlag und nicht nur einmal pro Kampf angerechnet wird. Außerdem sollte er Stacheln haben, die zwar überhaupt nichts mit Skarabäen zu tun haben, aber dafür cool an einem Superhelden sind. Schaden: +1W6. An der Wand laufen kann er nicht.

Diese Entscheidungen trafen wir in fünf Minuten, während wir die Regeln besprachen. Mein "innerer New-Schooler" rief die ganze Zeit: "Aber was ist mit Balancing? Was ist, wenn das später zu mächtig ist?" Die Gegenfrage muss natürlich lauten: "Wofür zu mächtig"? Hier kommt nämlich ein weiterer Old-School-Ansatz zum Tragen, den man viel zu leicht ignorieren kann: Der nächste Kampf kommt bestimmt. Während die Charaktere den aktuellen Gegner einfach überrennen, weil sie die richtige Fertigkeit haben, setzt sie der nächste Gegner vielleicht vor unüberwindbare Schwierigkeiten.

Die Entscheidungen über die Kräfte waren getroffen und funktionierten einfach. Später tauchte die Frage auf, ob sich Dr. Scarab selbst mit der Telekinese anheben kann. Wir beschlossen, dass er es zwar nicht direkt kann, dass es ihm aber möglich ist, sich damit abzustoßen, er also eine Art von telekinetischen Sprüngen beherrscht, die ihm helfen, wenn er irgendwo herunterfällt. Das kommt dem Fliegen sehr nahe, ist aber nicht das gleiche. Der Spieler beschloss außerdem, dass bei einer Anwendung der Kraft violette Wellen aus seinen Fühlern kommen, die das Objekt umhüllen, das er bewegen will. Damit wurde das gesamte Abenteuer spontan zu einer 60er- oder 70er-Jahre Vorabendserie.

Vergisst man das Balancing, sind solche Ad-hoc-Entscheidungen einfach zu treffen. Ich konzentrierte mich darauf, die Welt und die Gegner halbwegs nachvollziehbar darzustellen. Ich traf noch viele weitere Entscheidungen dieser Art - häufig trafen auch die Spieler Entscheidungen für mich, weil sie ihre Figuren beschrieben oder Fragen stellten, die ich gern mit 'Ja' beantwortete. Die Kämpfe sind kreativer als alle Kämpfe, die ich bisher gefochten habe. Wenn die Spieler etwas versuchen, sage ich normalerweise 'Ja', häufiger allerdings 'Ja, aber'. Das 'Aber' bedeutet kleine Anpassungen an die Situation oder eine Würfelprobe. Ich glaube, ich habe in drei Spielabenden nur ein einziges Mal 'Nein' gesagt.

Das ist herrlich befreiend. Wir spielen kreativ, lachen viel und spannend ist es auch noch. Finch hat also Recht: Man muss den ersten Zen-Moment erlebt haben, um ihn zu begreifen. Und das kann man nur, indem man ihn ausprobiert.

Vielleicht kann man es folgendermaßen zusammenfassen:

  • Tu es einfach!
  • Vergiss Balancing! Der nächste Kampf kommt bestimmt.
  • Triff die Entscheidungen anhand der Welt und dem allgemeinen Gefühl am Tisch, nicht anhand von irgendwelchen Ideen zur Story oder vagen Konzept von Gerechtigkeit. (Mit 'Gefühl am Tisch' meine ich die Meinung der Spieler. Sind alle der Meinung, dass etwas auf eine bestimmte Weise funktioniert, wird es das wahrscheinlich auch.)
  • Sag 'Ja'.

1 Kommentar:

  1. Punkt 3 ist gut, den sah ich bisher noch nicht so klar drin, was aber vielleicht darin liegt, dass es auch im ARS die Entscheidungsmaxime ist. Jedenfalls ist mir der Punkt nicht richtig bewusst geworden. Ansonsten haben wir über das tolle Teil gepodcastet: https://greifenklaue.wordpress.com/2017/03/25/gkpod-6-die-osr-fibel-karneval/

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