19.05.19

[Rezension] John Carter of Mars (Rollenspiel)


Der Mars, auf dem „John Carter of Mars“ seine Abenteuer erlebt, ist eine fantastische Welt voller Gefahren, Betrug, Ehre, fremder Völker und fieser Monster. Da ist es eigentlich verwunderlich, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, ein Rollenspiel darauf anzusiedeln. Der Verlag Modiphius hat diese Lücke nun geschlossen und ein buntes, aufwändig produziertes Rollenspiel herausgebracht. Es nutzt eine Variante ihres hauseigenen 2W20-Regelsystem. 

Das vollfarbige Regelwerk wird im Querformat geliefert. Mir liegt für die Rezi nur das vom Verlag zur Verfügung gestellte PDF vor, ich kann also nicht beurteilen, wie gut das Format in der Hand liegt. Mein Tablet ist damit jedenfalls gut fertig geworden. Das Cover vermittelt einen guten Eindruck von der Gesamtgestaltung. „Edgar Rice Borroug’s John Carter of Mars“, wie das Regelwerk mit vollem Titel heißt, bemüht sich um einen sehr modernen, dynamischen Stil, der mich besonders bei den großformatigen Bildern an Computerspiele denken lässt. Die Bilder innen sind häufig Ausschnitte, die geschickt an Seitenränder gestellt werden. Bis auf ein paar Ausnahmen gefallen sie mir sehr gut. Die Seiten haben einen sandfarbenen Hintergrund und als zweiter dominanter Farbton kommt ein warmes Dunkelrot dazu, was zusammen sehr gut zu den Beschreibungen des roten Wüstenplaneten Mars passt. Das Layout nutzt das Querformat vorbildlich, um die Übersichtlichkeit jederzeit hochzuhalten. Optisch ist das Buch ein echter Leckerbissen.

John Carter ist in Deutschland vermutlich nur Rollenspielern und anderen Geeks bekannt. Der 2012 erschienene nach dem Titelhelden benannte Disneyfilm dürfte aber zur Bekanntheit ein wenig beigetragen haben. Der erste Roman der Reihe mit dem Titel „A Princess of Mars“ erschien 1917 (Erstveröffentlichung in einer Zeitschrift war laut Wikipedia sogar schon 1912). Darin landet Hauptmann John Carter auf der Flucht vor Apachen in einer Höhle, von der aus er irgendwie auf den Mars transportiert wird. Dort findet er eine Wüstenlandschaft bevölkert von verschiedenen Arten von menschenähnlichen Kulturen vor. Weil die Schwerkraft auf der Erde höher ist als auf dem Mars, hat er besondere Kräfte. Wie es sich für eine derartige Geschichte gehört, verliebt es sich in eine Prinzessin, die wunderschöne Dejah Thoris, die er erst befreit und schließlich heiratet.

Obwohl ich es immer vorhatte, habe ich die Romane von Tarzan-Erfinder E. R. Borroughs nie gelesen. Wie das Rollenspiel aber schnell klarmacht, macht der Autor keine halben Sachen. Sein Held landet nicht nur einfach auf dem Mars, er verändert ihn, verschiebt Grenzen und vernichtet Religionen. Die Geschichte des Planeten wird in drei Zeitalter eingeteilt, die auf die Romane und John Carters Taten zurückgehen. Das Rollenspiel vermittelt einen guten Eindruck von der Faszination von Barsoom und warum die Romane auch nach der langen Zeit immer noch gelesen und geliebt werden. Die Beschreibung der Welt ist vorbildlich. Sie vermittelt die Stimmung, die man mit Abenteuern auf dem roten Planeten hervorrufen möchte, bleibt dabei aber jederzeit übersichtlich. Es gibt viel zu erzählen über die verschiedenen Kulturen, Orte, Leute und Geheimnisse des Mars. Weil all dies aus actionreichen Geschichten entnommen ist, stehen fast immer Konflikte und Handlung im Hintergrund der Beschreibungen. Das macht wirklich Spaß zu lesen. Gemeinsam mit Kreaturen, Geheimissen und wichtigen Persönlichkeiten ist ungefähr die Hälfte des Buches der Beschreibung Barsooms gewidmet.

Aber das heißt natürlich nicht, dass der Rest des Buches vom Mars unberührt bleibt. Die Regeln weisen immer wieder darauf hin, dass sie die pulpige Action der Geschichten einfangen wollen. Die Beschreibung der Völker, Archetypen und sogar der Technik sind ebenfalls tief in den Hintergrund eingebunden.

Die verwendete „Momentum-Variante“ des 2W20-Regelsystems bildet eine gute Grundlage für die Geschichten. Es kommt ohne Fertigkeiten aus. Charaktere werden durch sechs Attribute wie „Cunning“, „Empathy“ oder „Might“ beschrieben, die Werte zwischen 4 und 12 haben können. Natürlich gehört zu einem Charakter das Volk, dem er angehört, außerdem ein Archetyp, ein „Descriptor“ und Talente. Zusätzlich wird der Bekanntheitsgrad und der Ruhm einer Figur durch den Zahlenwert „Renown“ bewertet und natürlich darf auch eine nachteilige Eigenschaft, ein „Flaw“, nicht fehlen. Der Archetyp ist so etwas wie Luftschiff-Offizier oder Assassine, der Descriptor eine herausragende Charaktereigenschaft wie „brillant“ oder „diszipliniert“. Beides trägt nicht nur zur Beschreibung bei, sondern hat natürlich auch regeltechnische Auswirkungen. Bestimmte Attribute werden erhöht und Talente vorgeschlagen. Talente sind besondere Fähigkeiten, die für Boni oder besondere Einsatzmöglichkeiten sorgen. Abgesehen davon, dass man sich bei der Charaktererschaffung durch eine Reihe Talente arbeiten muss, aus denen man auswählen kann, sollte das alles recht schnell vonstattengehen und am Ende einen Charakter liefern, der mehr ist als nur ein paar Werte.

Für Proben werden immer zwei Attribute kombiniert. „Daring“ und „Cunning“ werden beispielsweise für einen Nahkampfangriff benutzt. Der addierte Wert ergibt einen Maximalwurf für zwei bis fünf W20 (meist 2W20, daher der Name des Systems). Jeder Würfel, der den Wert nicht überschreitet, ist ein Erfolg. Wird der niedrigere der beiden einzelnen Attributswerte von einem Würfel nicht überschritten, sind das sogar zwei Erfolge. Die Schwierigkeit einer Probe variiert durch die Anzahl an benötigten Erfolgen.

Der Name „Momentum“ kommt durch einen gleichnamigen Wert, der sich aus übriggebliebenen Erfolgen und anderen Situationen ergibt. Hat jemand bei einer Probe Erfolge übrig, werden diese zu Momentum. Momentum kann z. B. eingesetzt werden, um einen sofortigen Gegenangriff zu starten, sich Würfel dazuzukaufen oder für andere positive Dinge für die Spieler. Momentum kann teilweise aufgehoben werden und bringt Taktik und Dynamik ins Spiel – aber auch Komplexität. Wie gut mir das gefällt, kann ich erst beurteilen, wenn ich Gelegenheit hatte, das Spiel einmal im Spieltisch zu erleben. Auf jeden Fall sorgt es dafür, dass Actionszenen Taktik, Dynamik und ein wenig zusätzliche erzählerische Tiefe hinzugefügt werden. Das ist eine gute Sache, denke ich.

„Renown“ ist ein weiterer Wert, der über die Regeln dafür sorgt, dass die Geschichte nicht statisch wird. Er steht für den Ruhm und Bekanntheitsgrad der Charaktere. Verändert er sich, verändern auch sie sich über die reinen Zahlenwerte hinaus. Die Charaktere erhalten „Renown“, durch Taten, die an die Öffentlichkeit geraten und können es für Verbündete und Titel ausgeben, was ihren politischen Einfluss verändert.

Alles zusammen ergibt ein Regelwerk, das zwar einfach aber nicht simpel ist, angesiedelt in einer dichten, toll beschriebenen Welt, die vom Fantasyeinheitsbrei abweicht, aber dennoch vertraut wirkt. Der „Sweet Spot“ von Einfachheit und Komplexität von Regeln liegt natürlich bei jedem anders. Mir jedenfalls hat die vorliegende Mischung gut gefallen, auch wenn ich noch nicht sicher bin, ob mir das Momentum nicht etwas zu viel Buchhaltung ist. Ganz „nebenbei“ ist das Buch hervorragend organisiert, übersichtlich, leicht verständlich und hübsch anzusehen. „John Carter of Mars“ ist ein tolles Spiel geworden.

Fazit: „Edgar Rice Borroug’s John Carter of Mars“ liefert Action und Intrigen in einer dynamischen Welt. Die Regeln sind einfach gehalten und unterstützen mit ein paar Tricks das gewollte Spielgefühl. Das Buch ist übersichtlich, hübsch und gut geschrieben. Ich habe mich auf dem Mars sofort zu Hause gefühlt.

Edgar Rice Borroug’s John Carter of Mars
Grundregelwerk
Jack Norris, Benn Graybeaton
Modiphius 2018
ISBN: 978-1-912743-11-7
278 S., Hardcover, englisch
Preis: ca. 55 €

[Die Rezension wurde für den Ringboten erstellt. Der Verlag stellte mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung.]