30.04.17

Realismus ist für Leute, die Spaß für optional halten

Dies ist ein Gedanke, den ich, glaube ich, schon lange verinnerlicht habe. Ich erinnere mich jedenfalls an Situationen, in denen ich mich entsprechend verhalten habe. Vor kurzem stieß ich auf eine Reihe von Blogartikeln, die den Gedanken ins Zentrum allen Abenteuerdesigns gerückt haben. So habe ich das erste Mal bewusst darüber nachgedacht.

Die Idee ist folgende:

Nicht Realismus sollte das Designziel von Abenteuern sein, sondern der Spaß der Spieler. Spaß kommt im Rollenspiel aus interessanten Entscheidungen - vielleicht nicht ausschließlich, aber hauptsächlich. Charakterdarstellung, Immersion, Grusel, Spannung ... all das ist nichts ohne interessante Entscheidungen. Wenn man folgerichtig interessante Entscheidungen in den Mittelpunkt des Abenteuerdesigns und Spielleitens rückt, muss der Realismus manchmal weichen.

Ein paar Beispiele (die meisten davon aus den verlinkten Blogartikeln):

Gruppenaufteilung:

Vor langer Zeit leitete ich das geniale Cthulhuabenteuer Die Froschkönigfragmente. Das Abenteuer beginnt in Göttingen. Die Charaktere werden beauftragt einen Professor zu suchen, der vor ein paar Tagen verschwand. Die Spur führt in eine Kleinstadt namens Sehusen, wo der Großteil des Abenteuers stattfindet. Neben Sehusen wird aber auch Hannover erwähnt. Es ist keine echte Spur, die dorthin führt, aber Spieler können durchaus auf die Idee kommen, auch dort nachforschen zu wollen. In Hannover passiert aber nichts. Als meine Gruppe beschloss, sich aufzuteilen - eine Hälfte fährt nach Sehusen, die andere nach Hannover - war ich in einer blöden Situation. Natürlich hätte ich Hannover improvisieren können, aber nicht an diesem Abend. Ich war dazu nicht aufgelegt. Die eine Hälfte hätte also herumgesessen, während die andere das eigentliche Abenteuer erlebt. Meine Entscheidung war Offenheit: Ich sagte der Gruppe, dass sie in Hannover nichts herausfinden und sich alle einen halben Tag später in Sehusen treffen.

Realistisch war das nicht. Der Zeitablauf hätte ein anderer sein müssen. So aber war die Situation innerhalb von 30 Sekunden aufgelöst und alle gemeinsam konnten weiter das spannende Abenteuer erleben.

Der unzuverlässige Auftraggeber:

Der Spielleiter hat ein Abenteuer vorbereitet. Der Auftraggeber verspricht ein magisches Schwert als Belohnung. Einer der Spieler kommt auf die Idee, dass das Schwert unecht sein könnte. Vielleicht will der Auftraggeber die Charaktere bescheißen. Der Spielleiter sagt den Spielern, dass das Schwert echt ist und sie den Auftrag getrost annehmen können. Realistisch? Nein. Im anderen Fall hätten die Spieler aber raten müssen. Sie wären ggf. nicht auf den Auftraggeber sauer gewesen, sondern auf den Spielleiter, denn in dieser Situation konnten sie keine informierte Entscheidung treffen, sondern mussten "Was denke ich wohl gerade?" mit dem Spielleiter spielen. Das ist blöd und langweilig. Außerdem wollen alle endlich mit dem Abenteuer loslegen und sich nicht mit so einem Quatsch auseinandersetzen.

Fallen:

Interessante Fallen bringen interessante Entscheidungen. Dazu muss man sie finden und sie dürfen nicht sofort töten. Realistische Fallen wollen aber nicht gefunden werden. Noch extremer ist die potenzielle Gefahr von Fallen. Wenn die Spieler jede Tür, jedes Schloss und jeden Raum erst aufwendig nach Fallen untersuchen, weil sie jederzeit damit rechnen müssen, dass der Spielleiter ein lautes "Ha! Erwischt!" von sich gibt und dann eine Falle zuschnappen lässt, ist das unvorstellbar langweilig. Weniger Realismus bedeutet hier eindeutig mehr Spielspaß.

(Daniel und ich haben vor kurzem einen Podcast zu Fallen aufgenommen. Wer sich für unsere genau Meinung zu Fallen interessiert, möge ihn sich anhören. Er ist unterhaltsam - ehrlich :-) )

Leere Räume:

Leere Räume im Dungeon sind langweilig? Von wegen! Der Spielleiter muss sich nur darauf konzentrieren, Dinge zu beschreiben, die interessante Entscheidungen bewirken. Im oben verlinkten Hack-and-Slash-Blog wird es folgendermaßen beschrieben: "Ihr betretet ein Schlafzimmer. An interessanten Dingen seht ihr einen Schrank, ein Kästchen und ein an der Wand hängenden goldenen Schild." Realistischerweise müssten die Charaktere auch das Bett untersuchen, dass sicherlich in diesem Schlafzimmer steht, und vielleicht den Boden und all die anderen Dinge, die herumstehen könnten. Doch das wäre langweilig. Der Spielleiter gibt eine Auswahl vor, diese kann untersucht werden und das war's.

Bei einer Ansammlung von leeren Räumen kann man sogar noch extremer vorgehen: "Im Westflügel gibt es nichts zu finden. Was macht ihr im Ostflügel?" Oder: "Im Westflügel gibt es nur wenig zu finden. Wenn ihr ihn komplett untersuchen wollt, dauert das drei Stunden und ich würfele zweimal auf der Tabelle für Zufallsbegegnungen. Wollt ihr das?"


Gibt es für die vier Beispiele Möglichkeiten, den Realismus aufrecht zu erhalten und trotzdem Spaß zu haben? Sicherlich. Klappt das immer? Nein. Es sitzen reale Leute um den Tisch herum, Leute, die vielleicht nicht immer 100%ig aufmerksam sind, Leute, die mal mehr, mal weniger kreativ sind. Leute, die wissen, dass der Spielleiter der Erfinder bzw. das Sprachrohr des Erlebten ist und keine reale Welt mit realen Gegebenheiten dahintersteckt. Leute, die sich in bestimmten Situationen eher vom Spielleiter hereingelegt fühlen als vom Abenteuer. Um interessante Entscheidungen treffen zu können, benötigen die Spieler Informationen und manchmal ist es nicht realistisch, dass sie die Informationen haben. Doch das ist egal, Hauptsache ist, sie bekommen sie.

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Dieser Artikel steht unter einem neuen Label: "Abenteuer gestalten". Ich schreibe zurzeit ein Buch mit diesem (Arbeits-) Titel und hoffe, dass es noch dieses Jahr fertig wird. Vielleicht kommt der Artikel, wie er ist, ins Buch, vielleicht auch nicht. Wenn ich in Zukunft etwas Interessantes über Abenteuerdesign finde, wird es dieses Label tragen.

22.04.17

[Rezension] Manifest Destiny 3: Chiroptera und Carniformaves

„Manifest Destiny“ berichtet von der Expedition von Captain Meriwether Lewis und Second Lieutenant William Clark in die unerforschten Gebiete von Amerika. Sie sollen das Land erkunden und für eine spätere Besiedlung sicher machen. Sie stießen bereits auf verschiedenste Gefahren: Monster, Krankheiten, ihre eigenen Leute. Was mag sie wohl im dritten Teil der Reihe erwarten?

Der Leser mag befürchten, dass sich die Gefahren wiederholen. Wie viele Arten, Monstern zu begegnen mag es wohl geben? Chris Dingess gelingt es aber ein weiteres Mal eine völlig andere Art von Schrecken auf die Hauptfiguren zu hetzen. Dieses Mal ist zunächst gar nicht sicher, wie gefährlich diese putzigen Wesen sind, die ihnen über den Weg laufen. Die Reisenden können sich sogar mit ihnen unterhalten.

Als das Schiff weiter flussaufwärts ins Landesinnere fährt, am Horizont ein weiterer Steinbogen auftaucht und der Befehl ausgegeben wird, diesen zu erkunden, ist niemand begeistert. Die letzten beiden Male sind viele Menschen gestorben, als sie diese Torbögen untersucht haben. Captain Meriwether ist aber unerbittlich. Er stellt eine Gruppe zusammen und gemeinsam gehen sie in Richtung des Torbogens. Das blaue Vogelwesen, das sie in der Nähe des Bogens entdecken, scheint zunächst ungefährlich zu sein, doch dann greift es einen Seemann an und wird gefangen gesetzt. Als es plötzlich anfängt zu sprechen, ist der Schrecken groß.

Der kleine Kerl gehört einer Zivilisation an, die der Mannschaft völlig fremd ist. Dementsprechend weiß auch niemand, inwieweit man ihnen trauen kann. Schließlich taucht ein zweites Monster, ein geflügelter Fleischfresser, auf und das blaue Federwesen ruft dazu auf, es zu jagen und zu töten. Doch wie gefährlich ist das? Und will der sprechende Vogel die Mannschaft vielleicht in eine Falle locken?

Dingess gelingt es ein weiteres Mal, die Spannung über die gesamte Länge des Bandes aufrecht zu halten. Viel zu schnell ist man am überraschenden Ende angekommen und fiebert auf den nächsten Teil der Geschichte. Misstrauen gemischt mit Fremdartigkeit und ein wenig Ungläubigkeit bestimmen die Handlung. Der Schluss ist schockierend. Blut und Horror kommen auch nicht zu kurz. Die Geschichte der Mannschaft, ihre internen Schwierigkeiten und Persönlichkeiten rücken etwas in den Hintergrund, doch das stört nicht. Die Vogelwesen sind einfach zu faszinierend.

Bilder und Erzählweise erinnern wie in den ersten Bänden an einen Hollywoodfilm. Mich würde es nicht wundern, wenn irgendein Studio ein Fantasy-Action-Spektakel aus der Geschichte machte. Die Bilder von Matthew Robert und die Farben von Owen Gieni unterstützen die Erzählung hervorragend. Erst durch sie hat der Leser das Gefühl in einem Film zu sein.

Fazit: Der dritte Band steht den ersten beiden in nichts nach. Er setzt sogar noch einen drauf, was Spannung und ungewöhnliche Themen angeht. Dingess mischt Abenteuer, Fantasy und Horror zu einer innovativen Saga. Für solche Geschichten werden Comics gemacht.

Manifest Destiny 3: Chiroptera und Carniformaves
Comic
Chris Dingess, Matthew Roberts, Owen Gieni
Cross Cult 2016
ISBN: 978-3-95981-027-2
128 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 20,00

[Die Rezension wurde für den Ringboten erstellt. Sie basiert auf ein Rezensionsexemplar des Verlags.]

18.04.17

[Rezension] ASH Austrian Superheroes Vol. 1 - Rückkehr der Helden

Superhelden sind eigentlich etwas typisch Amerikanisches. Wie aber würden europäische Superhelden aussehen – oder in diesem Fall österreichische? Diese Frage stellte sich auch das Team hinter "ASH" und beantwortet sie auch gleich selbst.

Österreichische Superhelden? Wiener Schmäh und Heldentaten von Leuten in Strumpfhosen? Ob so etwas funktioniert, hängt davon ab, ob es den Machern gelingt, sich von den amerikanischen Vorbildern zu lösen. Es gelingt ihnen. Ohne krampfhaft anders sein zu wollen, erzählen sie eine humorige Geschichte, die sich nicht davor scheut Klischees zu benutzen oder auch mal albern zu sein.

"ASH" wurde mithilfe eines Kickstarters finanziert. Man mag von Crowdfunding halten, was man will, aber ein Produkt wie dieses würde ohne Vorfinanzierung wahrscheinlich nicht existieren. Ursprünglich aus vier Heften bestehend wurde die vorliegende Miniserie "Rückkehr der Helden" mit einigen Extras angereichert, die sie zu einem hübschen Stück Comickultur machen. Kleine "Making-offs" zeigen frühe Stadien der Figuren und wie sie sich entwickelten. Es gibt Texte, die ein wenig über den Verlauf des Kickstarters und Ziele und Pläne der Macher berichten. Für jedes Heft werden drei Variantcover abgedruckt. Außerdem gibt es einige Minigeschichten, die im Zuge der KS-Promotion herausgebracht wurden, z. B. zum Free Comicbook Day. Jede davon erzählt die Originstory eines der Helden des Teams. Die Extras zusammengenommen lassen den Leser an der Entwicklung teilhaben, geben ihm ein klein wenig den Eindruck "dazuzugehören". Prinzipiell ist das natürlich nichts Neues, aber genau dieses Gefühl ist vielleicht der Grund, überhaupt einen Blick auf europäische Superhelden zu werfen. Es geht hier um uns und nicht um Amerikaner. So funktioniert der erste Band von ASH gleich auf mehreren Ebenen und vermittelt ein nicht alltägliches Comicerlebnis.

Hauptperson der Geschichte ist Captain Austria jr., der Sohn des ursprünglichen Captain Austria, der versucht in Papas Fußstapfen zu treten. Papa selbst taucht nur kurz auf und ist nicht unbedingt ein Sympathieträger. Die anderen Leute des sich bildenden Superheldenteams sind da anders. Eine superstarke Dame namens Lady Heumarkt ist die Tante von Cap Junior. Das Donauweibchen ist ein Wasserwesen und was genau mit dem Bürokraten ist, wird (noch) nicht erklärt.

Jedes Superteam braucht einen Supergegner. Dieser hier ist ein Basilisk – superstark und riesig groß –, der in Wien und Umgebung wütet und unschuldige Menschen umbringt. Cap Junior kann ihn allein nicht besiegen und sucht sich ein Team zusammen. Er muss schließlich sogar zu Papa kriechen und ihn um Hilfe bitten, was ihm wirklich nicht leicht fällt.

Obwohl die Geschichte um ein scheinbar unbesiegbares Monster geht, ist sie kleiner als die typische Superheldenstory und aus diesem Grund irgendwie sympathischer. Die Persönlichkeiten hinter den Teammitgliedern, die teilweise vorhandenen Familienzugehörigkeiten, ihre kleineren Probleme und Alltäglichkeiten werden in die Geschichte eingebracht, ohne sie damit zu überfrachten. Die Helden müssen auch schon mal mit der U-Bahn zum Ort des Geschehens fahren. Humor spielt eine große Rolle. Weder er noch die Handlung selbst ist besonders subtil, aber beides zusammen macht Spaß. Alte Geheimnisse werden angedeutet und das Verhältnis zwischen den Figuren wird nicht abschließend erklärt. Der Plot um den Basilisken wird zwar abgeschlossen, doch es bleibt genug offen, um sich auf die nächsten Bände zu freuen.

Die Reihe ist bei Cross Cult gut aufgehoben. Der kleine Verlag beweist immer wieder ein gutes Gespür und viel Liebe zum Detail. "ASH" wird als Softcover herausgebracht, was ich persönlich für eine gute Wahl halte. So kann der Fan in preislich angemessenem Rahmen die Heldentaten von Österreichs größtem Superheldenteam erleben.

Fazit: Die erste Miniserie von "ASH" macht Spaß. Angefüllt mit viel Humor und Klischees erzählt der vorliegende Band das erste Abenteuer von Österreichs jungen Superhelden. Wichtiger noch als die Gefahr selbst, der sich die kleine Truppe stellen muss, sind die Hintergründe der Helden. So wird die Geschichte persönlicher, "kleiner" und sympathischer. "ASH" schafft es durch seinen eigenen Stil, sich von amerikanischen Superheldengeschichten abzuheben und das Genre europäisch zu machen. Da bin ich gern auch in den folgenden Bänden dabei.

ASH Austrian Superheroes Vol. 1 - Rückkehr der Helden
Comic
Harald Havas, Thomas Aigelsreiter, Patrick Kloepfer
Cross Cult 2016
ISBN: 978-3-95981-133-0
144 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 16,90

[Die Rezension wurde für den Ringboten erstellt. Sie basiert auf ein Rezensionsexemplar des Verlags.]