22.05.23

[Rezi] Vaesen - Nordic Horror Roleplaying

„Vaesen“ ist ein mystisches Rollenspiel von Free League. Die Industrialisierung drängt die mythischen Wesen Skandinaviens immer weiter zurück und sorgt für Konflikte zwischen ihnen und den Menschen. Die Charaktere gehören zu den wenigen Menschen, die diese Wesen sehen können. So liegt es an ihnen, potenzielle Konflikte zu verhindern und Menschenleben zu retten.

„Vaesen“ ist ein wunderhübsches Spiel über nordische Folklore. Vom Aufbau her ist es Cthulhu nicht unähnlich. Die Charaktere stellen sich zwischen magische und gefährliche Wesen und die Menschen, die diese bedrohen. Die Abenteuer sind detektivisch und die Monster nur selten mit einfacher Waffengewalt zu besiegen. Anders als bei Cthulhu sind die Wesen zwar gefährlich, aber dennoch häufig Teil der natürlichen Ordnung. Sie sind neutral und nicht zwangsläufig böse. Manchmal kann eine Verhandlung die bessere Alternative zu Kampf sein.

Für die Bebilderung zeigt sich Johan Egerkrans verantwortlich. Sein Stil ist ein echter Augenschmaus. Das Layout wurde an diesen Stil und das Thema des Buchs angepasst und ist nicht weniger hübsch. All das ist auf mattes voluminöses eierschalenfarbenes Papier gedruckt. Der Buchdeckel ist matt. Es ist eine wahre Freude, das Buch in die Hand zu nehmen und darin zu blättern. Man kann die Gestaltung des Buches gar nicht genug loben. Es passt alles zusammen: die Auswahl der Fonts, die Farben, der Seitenaufbau und natürlich die Bilder. 

Vaesen sind normalerweise unsichtbar - außer für die so genannten Donnerstagskinder. Verursacht von einem Trauma haben diese die Fähigkeit, Vaesen zu sehen. Bis vor kurzem gab es eine Gesellschaft - kurz und prägnant The Society genannt, die die nordischen Sagenwesen studierte und bekämpfte. Die Kampagne sieht vor, dass die Charaktere die Gesellschaft wieder versuchen aufzubauen. In Upsala beziehen das ehemalige Hauptquartier der Society, die Burg Gyllencreutz und bauen sie wieder auf. Sie engagieren Leute, suchen Verbündete und kümmern sich ganz allgemein um alle Belange und Probleme. Ihre Hauptaufgabe ist aber natürlich die Bekämpfung der Vaesen. Die Geschichte der Society bildet eine Art optionalen Metaplot, der sich im Abenteuer am Ende des Regelbuchs bereits andeutet, der aber nicht weiter beschrieben wird. Die Spielleitung kann sich hier beliebig austoben und die Kampagne mit zusätzlichen Geheimnissen und Konflikten füllen.

Die Charaktererschaffung basiert auf Archetypen, die nach Wunsch der Einzelnen mit Details erweitert werden. Neben Attributen und dazugehörigen Fertigkeiten werden Hintergrundinformationen wie eine Motivation, ein dunkles Geheimnis und auch das Trauma, das alles gestartet hat, festgelegt. Attribut und Fertigkeit zusammenaddiert ergeben die Anzahl an W6, die für eine Probe gewürfelt werden. Jede 6 ist ein Erfolg. Man kann einen schlechten Würfelwurf versuchen zu verbessern, indem man ihn noch einmal würfelt. Allerdings nimmt man dafür einen Zustand hin. Zustände beschreiben Verwundungen und Stress, die sich negativ auf die Figuren auswirken und bis zu permanenten Beeinträchtigungen oder sogar dem Tod führen können.

Das Regelbuch geht genau auf die Struktur einer typischen Kampagne und den Aufbau von Abenteuern ein. Zum Beispiel gibt es in und um die Burg immer wieder Probleme, die es zu bewältigen gibt. Dafür kann man die Burg mit Upgrades versehen, die ihre Nützlichkeit als Hauptquartier erweitern. Allerdings führen diese zu Aufmerksamkeit und diese wiederum zu weiteren Problemen. Ein Abenteuer besteht aus definierten Phasen (Prolog, Einladung ins Abenteuer, Vorbereitungen, Reise, Ankunft usw.). Für diese Phasen werden sogar Tabellen geliefert, die man als Inspiration für eigene Fälle nutzen kann. 

Ein großes und wichtiges Kapitel widmet sich den Vaesen selbst. Jeweils eine Doppelseite beschäftigt sich mit einer einzelnen der Kreaturen. Es gibt ein Bild, Spielwerte, ein Geheimnis, Beispiele für Konflikte mit dem Wesen und andere inspirierende Informationen. Ein Abenteuer mit der jeweiligen Kreatur schreibt sich praktisch von selbst - besonders wenn man auf die typische Struktur von Vaesen-Abenteuern zurückgreift. Hier sieht man gut, dass der Horror-Aspekt von „Vaesen“ zwar klar gegeben ist, aber zugunsten von Mystik auf ein Minimum reduziert werden kann.

Das im Regelbuch enthaltene Einführungsabenteuer The Dance of Dreams konnte ich als Spieler auf einer Con mit großem Spaß spielen. Auf einem gut gewählten und hervorragend in Szene gesetzten Schauplatz hatten wir es mit Rache, Missverständnissen, Schattentheater und tiefsitzenden Familienproblemen zu tun. Das Abenteuer macht nicht nur Spaß, es zeigt auch hervorragend, wie der typische Aufbau funktioniert. Wenn es etwas zu kritisieren gibt, dann die viel langen und schlecht lesbaren Handouts. Ein Podcast ((https://podcast.system-matters.de/2022/03/31/abenteuer-erforschen-10-der-tanz-der-traeume/)), in dem wir gemeinsam mit Felix Hensell vom Uhrwerk-Verlag (Redakteur der deutschen Übersetzung des Spiels) die Stärken und Schwächen des Abenteuers analysieren, findet man auf der Webseite des System-Matters-Verlags. 

Fazit: „Vaesen“ ist ein tolles Spiel. Das Buch sieht toll aus, bietet gute, einfache Regeln und ein hervorragendes Gerüst für mystische Abenteuer in einem vergangenen Skandinavien. Es liest sich gut und erleichtert der Spielleitung jederzeit mit Tipps, Informationen und Strukturen die Arbeit. Mehr kann man nicht verlangen.

Vaesen - Nordic Horror Roleplaying
Grundregelwerk
Nils Hintze, Rickard Antroia, Nils Karlén
Free League 2020
ISBN: 978-9-18914-392-0
232 S., Hardcover, englisch
Preis: ca. EUR 44

[Die Rezension wurde für den Ringboten erstellt.]

07.05.23

[Rezi] Blade Runner The Roleplaying Game

“Blade Runner The Roleplaying Game” ist die Rollenspielumsetzung des berühmten Franchise. Der schwedische Verlag Free League hat sich des Themas angenommen und ein wunderhübsches und stimmungsvolles Spiel abgeliefert.

Das „Starter Set“ habe ich schon vor einer Weile besprochen und fand es sehr gelungen. Will man aber mehr als nur den dort beschriebenen Kriminalfall spielen, wird man sich vermutlich das Grundregelwerk zulegen. Es ist ein stabiles Hardcover im gleichen dunklen und trotzdem übersichtlichen Design. Die Bilder sind sehr stimmungsvolle Straßen- und Stadtszenen oder Abbildungen von Personen, verwaschen und in dunklen Farben gehalten. Mir persönlich sind sie teilweise zu stark verwaschen, aber sie passen hervorragend zur angestrebten Stimmung vom verregneten, künstlich beleuchteten LA. Das Layout greift das auf. Vor dunklen Seitenhintergründen liegen sandfarbene Textkästen, in denen sich der Hauptteil der Texte befindet. Tabellen, Beispiele und Zusatzinformationen sind in heller Schrift auf dunklem Grund. Zum Glück wurde eine Schriftart gewählt, die sich trotz dieser Farbgebung gut lesen lässt. Es macht Spaß, das Buch aufzuschlagen und darin zu blättern, es ist einfach hübsch.

Im Vorsatz ist eine Übersichtskarte von Central Los Angeles abgedruckt. Sie vermittelt das Gefühl der Größe und ganz grob die Verhältnisse, wie die verschiedenen Stadtviertel zueinander liegen, und sieht einfach gut aus. Nur das Cover finde ich langweilig. Aber das ist natürlich Geschmackssache.

Mit ca. 230 Seiten ist das Buch nicht so dick wie viele moderne „große“ Regelwerke, was ich sehr angenehm finde. Die Informationen werden übersichtlich und ohne Geschwafel vermittelt. Das Buch vermittelt in wenigen Worten, was es ausdrücken will. Ich habe praktisch überall auf Anhieb verstanden, was das Regelwerk von mir will.

Die Einführung, was man als Spielgruppe zu erwarten hat, geht bis S. 23 - eine schöne kompakte Übersicht. Auf diesen wenigen Seiten lernen wir, worum es geht. Wir schreiben das Jahr 2037. Es gab ein Verbot von Replikanten und einen Blackout, der alle Daten löschte. Die Wallace Corporation hat letztes Jahr durchgesetzt, dass ihr neues Replikatenmodel, der Nexus-9, für die Massenproduktion und den Masseneinsatz erlaubt wird. Das bedeutet, in Los Angeles leben eine Menge – man schätzt 2 bis 5 Prozent der Bevölkerung - legale Replikanten, die ihren Aufgaben nachkommen. Einige davon arbeiten auch beim LAPD als Blade Runner. Sie sind erst ein Jahr alt, aber mit künstlichen Erinnerungen ausgestattet, die sie auf eine Arbeit als Blade Runner „vorbereiten“. 

Das zweite große Kapitel dreht sich um die Charaktererschaffung. Wie beim Haussystem von Free League zu erwarten, wird wieder mit Archetypen gearbeitet, die von den Spielerinnen und Spielern für ihre Zwecke angepasst werden. Es gibt 4 Attribute (Gewandtheit usw.) mit jeweils drei dazugehörigen Fertigkeiten (Feuerwaffen u. ä.). Anders als bei den anderen Haussystemen des schwedischen Verlags wird hier nicht mit einem Poolsystem gearbeitet, sondern diesen Eigenschaften Würfelgrößen zugeordnet, die per Buchstabencode auf dem Charakterbogen notiert werden. Diese reichen von D (W6) bis A (W12). Man würfelt zwei Würfel: jeweils die Würfel für das Attribut und die Fertigkeit. Ich schieße beispielsweise mit W10 (B in Gewandtheit) und W8 (C bei Feuerwaffen). Eine 6 oder mehr ist ein Erfolg. Eine 10 oder mehr (soweit möglich) bringt zwei Erfolge. Eine Probe mit zwei oder mehr Erfolgen ist ein kritischer Erfolg, was besonders im Kampf von Bedeutung ist. Riskiert man körperlichen oder geistigen Schaden, darf man eine Probe noch einmal würfeln, falls einem das Ergebnis nicht zusagt. 

Von besonderer Bedeutung sind Humanity Points und Promotion Points. Beide können auf unterschiedliche Weise eingesetzt werden - z. B., um besondere Ausrüstung vom LAPD zu leihen oder Fertigkeiten zu steigern - und auf unterschiedliche Weise verloren gehen bzw. hinzugewonnen werden. Beides fließt in die Geschichte ein. Replikanten müssen sich beispielsweise einem Test unterziehen, wenn sie alle ihre Promotion Points verlieren. Über diese beiden Punktesorten werden auf sehr effektive Weise die Themen des Spiels vermittelt: Das Einfügen in die Gesellschaft und Menschlichkeit. 

Außerdem werden für jede Figur eine zentrale Person und eine zentrale Erinnerung festgelegt. Beide fließen sehr direkt ins Spielgeschehen ein. Beide können künstlich sein, wenn der Charakter ein Replikant ist. Die Zeit des Tages ist in Schichten von sechs Stunden eingeteilt und eine davon muss Freizeit sein, will sich der Charakter nicht überarbeiten. Für die Freizeit gibt Tabellen, was in dieser Zeit passieren kann, und in diesen Tabellen kommen beide zentralen Dinge vor. Die Spielleitung versucht sie dann so gut wie möglich in eine Miniszene für diesen speziellen Charakter einzuarbeiten. Manchmal bringen diese Szenen sogar den Fall weiter. Außerdem können sowohl Person als auch Erinnerung im Spiel eingesetzt werden, um bestimmte Vorteile zu bekommen. Wie schon die oben beschriebenen Punkte wird hier auf unkomplizierte Weise dafür gesorgt, dass die zentralen Themen des Spiels auch wirklich an den Spieltisch finden.

Mit dem Kampf geht es weiter und der hat es wirklich in sich. Kampf ist etwas, das man vermeiden sollte und schon zwei Schlägertypen mit Messern stellen eine ernsthafte Gefahr da. Ein kritischer Erfolg löst einen Wurf auf einer Tabelle für kritischen Schaden aus, der durchaus tödlich oder nahezu tödlich enden kann. Ein einziger Treffer kann mit Pech das Ende bedeuten. Das passt sehr gut zum Genre und vermittelt die Gefahr der Straße. 

In diesem Kapitel werden auch Verfolgungsjagden abgehandelt, die ebenfalls wichtiger Bestandteil des Genres sind. Das System ist einfach gehalten, kann aber das Chaos einer Verfolgung durch überfüllte Straßen gut abbilden. Tabellen geben unerwartete Ereignisse vor und die Entscheidung zwischen einer Handvoll einfacher Manöver gibt Auswahlmöglichkeiten für die Beteiligten.

Dann kommen wir beim Hintergrund an. LA erhält ein eigenes ausführliches Kapitel. Ein paar stimmungsvolle Absätze zu Beginn und Informationen über Stadtviertel, Technik und Kommunikation (um nur ein paar Stichworte zu nennen) vermitteln ein vollständiges Bild, ohne sich in Details zu verlieren.

Das nächste Kapitel beginnt mit einem Interview zwischen einer Zeitschrift und dem Chef der Wallace Corporation Niander Wallace, das ein hervorragendes Stimmungsbild abgibt. Der Rest des Kapitels beschäftigt sich mit den verschiedenen Fraktionen in LA. Staatliche und kriminelle Organisationen, die Medien, die Wallace Corporation und natürlich die Replikanten mit den verschiedenen Modellen und dem Replikantenuntergrund, der sich für die Rechte der künstlichen Menschen einsetzt. 

Das nächste Kapitel mit dem Titel Working the Case ist das zentrale Kapitel über das Wie und Was der täglichen Arbeit der Blade Runner. Wie kommen die Blade Runner an besondere Ausrüstung? Was für Ränge gibt es? Was für Abteilungen gibt es? Was für technische Möglichkeiten stehen dem LAPD zur Verfügung? Wie sieht das Standardverfahren bei Fällen aus? All diese Fragen und mehr werden geklärt. 

Bei Science-Fiction-Rollenspielen sind die Kapitel über die Ausrüstung besonders wichtig. Das vorliegende Kapitel Tools of the Trade hat mich mit seiner Effektivität beeindruckt. Hier gibt es weit mehr als Listen. Die Marke wird hier ebenso erklärt wie die Standardwaffen und -fahrzeuge, die dem LAPD zur Verfügung stehen. Zentrales technisches Element ist der KIA, der Knowledge Integration Assistent, der mit dem Server des LAPD verbunden nicht nur ermöglicht Beweismaterial sofort dorthin hochzuladen, sondern auch eine effektive Kommunikationsmöglichkeit zwischen den Blade Runnern darstellt. Das Gerät ermöglicht es der Gruppe, sich zu trennen und trotzdem gemeinsam zu agieren. Die Verbindung zum Server kann aber auch getrennt werden. Verrat und das Umgehen der Regeln sind wichtige Bestandteile des Spiels.

Running Blade Runner bildet das Abschlusskapitel des Buchs. Die eigentlichen Kriminalfälle, sollen nicht nur spannende Geschichten erzählen, sie drehen sich auch um die wichtigen Fragen der Menschheit: Was macht einen Menschen aus? Was ist Realität, wenn meine Erinnerungen in einem Labor designt wurden? Was bedeuten Menschlichkeit und Moral? Dieses Kapitel vermittelt theoretische Überlegungen dazu. Ein komplettes Beispiel ist im „Starter Set“ zu finden. Sind die künftigen Fälle so gut wie der im „Starter Set“ (ich hatte inzwischen Gelegenheit, ihn zu spielen), dann ist auch die praktische Umsetzung dieser Überlegungen hervorragend gemacht. Ich hoffe jedenfalls auf noch viele offizielle Abenteuer. Neben dem typischen Aufbau eines Falles, den zentralen Fragen der Fälle, Tipps zur Stimmung und allgemeinen Tipps zu Detektivfällen liefert das Kapitel auch Tabellen mit deren Hilfe man einen Fall selbst erstellen kann.

Vielleicht kann man an meinen Beschreibungen bereits erahnen, wie begeistert ich von „Blade Runner“ bin. Die Regeln sind auf den Punkt passend und liefern alles Nötige, ohne unnötig kompliziert zu werden. Die Beschreibungen sind kurz und kompakt und stimmungsvoll. Die gebotenen Informationen lassen keine Fragen offen, soweit ich das nach meinem Testspiel sagen kann. Es macht Spaß das Buch anzusehen und es macht Spaß, es zu lesen. „Blade Runner The Roleplaying Game” ist gemeinsam mit dem „Starter Set“ für mich eines der beeindruckendsten Rollenspielprodukte der letzten Jahre.

Fazit: Wer sich für das Franchise „Blade Runner“ oder für interessante Kriminalfälle im Rollenspiel interessiert, sollte einen Blick auf „Blade Runner The Roleplaying Game“ werfen. Das Buch sieht gut aus und liest sich gut. Die Informationsdichte ist hoch, ohne zu überfordern. Die Regeln sind gelungen und nicht zu kompliziert. Die Hintergründe werden gut vermittelt. Ein tolles Buch.

Blade Runner The Roleplaying Game

Grundregelwerk
Tomas Härenstam, Joe LeFavi, Nils Karlén, Gareth Mugridge
Free League 2022
ISBN: 978-9-18914-373-9
231 S., Hardcover, englisch
Preis: EUR ca. 46

[Die Rezension wurde für den Ringboten erstellt. Der Verlag stellte mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung.]