05.02.21

[Rezension] Apocthulhu

Auch wenn die Großen Alten gewinnen und die Welt untergeht, heißt das noch lange nicht, dass man aufhören muss zu spielen. Wenn die Endzeit angebrochen ist und der Cthulhu-Mythos die Welt fest in seinen Tentakeln hält, kann man sogar besonders spannende Abenteuer erleben. „Apocthulhu“ ist ein vollständiges Endzeit-Rollenspiel mit Cthulhu-Thema. Das Regelwerk basiert auf dem W100-System, das wir alle kennen und lieben.

Eigentlich wundert es mich, dass es nicht viel mehr Quellenbücher und Rollenspiele gibt, die Cthulhu mit Endzeit verbinden. Immerhin scheint jedes zweite Cthulhu-Abenteuer darum zu gehen, die Welt zu retten. Was passiert, wenn es schief geht, ist die logische nächste Frage. Natürlich gibt es solche Bücher. Spontan fallen mir zwei deutsche Bücher aus der offiziellen Reihe von Pegasus ein (davon eine deutsche Eigenproduktion). Mit „Apocthulhu“ gibt es jetzt ein weiteres.

Wer die aktuelle Auflage von „Delta Green“ oder das deutsche „Fhtagn“ kennt, dem dürften viele der Regeln des 330 Seiten starken Buchs bekannt vorkommen. Diese basieren wiederum auf dem klassischen „Cthulhu“-Regelwerk. Eine Handvoll Attribute wird ausgewürfelt (oder Punkte darauf verteilt), woraus sich Trefferpunkte, Willenskraftpunkte, geistige Stabilität und andere Dinge berechnen. Man wählt außerdem einen Archetyp wie „Ehemaliger Arzt“ oder „Outcast“. Jeder Archetyp hat eine kurze Liste mit Fertigkeiten, die die Basis seines Könnens darstellen. Anschließend bekommt man weitere Punkte, die man auf die anderen Fertigkeiten verteilt. Anders als im klassischen Cthulhu wird hier in 20%-Segmenten gesteigert – eine Vereinfachung, die ich persönlich sehr begrüße. Mir war nie klar, worin der Sinn bestehen soll, 3 oder 8 Prozentpunkte in eine Fertigkeit zu investieren statt 20 oder 40.

Die Willenskraftpunkte bilden eine Erweiterung von den Magiepunkten, wie man sie kennt. Sie werden in vielen Situationen eingesetzt, in denen es auf Willenskraft und Durchhaltevermögen ankommt, z. B. wenn es darum geht, eine geistige Krankheit kurzfristig zu unterdrücken, Überredungsversuchen zu widerstehen oder einfach durchzuhalten. Außerdem werden sie verwendet, wenn gezaubert werden soll. Geistige Stabilität wird wie gehabt verwendet. Die Regeln sind leicht angepasst, aber problemlos wiedererkennbar. Wichtig für die geistige Stabilität sind die so genannten „Bonds“, Personen oder Gruppierungen, die dem Charakter Halt geben und auf die er (oder sie selbstverständlich) besonders gut achtgeben muss.

Wie kaputt die Welt nach der globalen Katastrophe ist, wird mithilfe des so genannten “Harshness Descriptors” festgelegt, der nicht nur Einfluss darauf hat, wie schwer Ausrüstung und lebenswichtige Güter zu beschaffen sind (was sich in unterschiedlichen Proben äußert), sondern auch auf die Charaktererschaffung. Je härter die Umgebung, desto härter die Überlebenden. Das kann sich z. B. in höheren Werten in Stärke und Konstitution und bestimmten Fertigkeiten zeigen, aber auch in einer niedrigeren geistigen Stabilität.

Ressourcen spielen in Endzeitrollenspielen eine besonders wichtige Rolle, denn viele wichtige Ressourcen wie Nahrung, Wasser, Waffen, Munition, medizinische Ausrüstung und Medikamente könnten Mangelware sein. „Apocthulhu“ benutzt einfache und gelungene Regeln, um diesen Mangel darzustellen. Die Charaktere haben Ressourcenpunkte, wobei sie nur soundso viele davon mit sich herumtragen können und den Rest irgendwo lagern müssen. Abhängig vom Wert hat ein Charakter 0 bis 3 „check boxes“, die repräsentieren, wie häufig pro Abenteuer die Figur einen nützlichen Gegenstand aus dem Hut zaubern kann. Der Ressourcenwert kann natürlich steigen und sinken. Die kurzen Regeln bilden auf einfache Weise ab, was eine Figur besitzen kann, wie sich dies auf ihren Einfluss auf die Gemeinschaft auswirkt und wie viel eingelagert werden muss. Ein schönes und sinnvolles System.

Der nächste große Teil des Buchs beschäftigt sich mit dem Bau einer Endzeit. Hier findet der Spielleiter Regeln und Tipps, wie er seine eigene Apokalypse entwerfen kann. Wie kaputt ist die Welt? Wie groß ist der Mangel an alltäglichen Dingen? Was hat die Welt kaputtgemacht? Fahrzeug-Regeln. Es gibt Regeln für „übernatürliche Effekte“. Das entspricht grob der „Zauberei“ von Cthulhu, nur dass keine Zaubersprüche bereitgestellt werden. Zauberei soll wichtigen Wendungen in den Abenteuern vorbehalten und tief in den Plot eingebunden sein. Der Spielleiter erhält Tipps, wie er diese Effekte umsetzt. Monster sucht man ebenfalls vergebens (außer in den Beispielsettings, siehe unten). Stattdessen verweist „Apocthulhu“ auf andere Cthulhu-Regelwerke. Unter anderen Umständen fände ich das seltsam. Auf der anderen Seite handelt es sich bei „Apocthulhu“ – so professionell es sein mag – um ein kleines Hobby- bzw. Nischenprodukt, das wohl niemand kauft, der nicht Cthulhu ohnehin schon kennt. Es besteht also kein Grund, die vielen bekannten Monster ein weiteres Mal zu listen. Ganz nebenbei geht das Buch damit auch etwaigen Copyright-Problemen aus dem Weg und mit „Fhtagn“ gibt es ein kostenloses deutschsprachiges Regelwerk, das einige Monster liefert.

Der letzte und spannendste Teil des Buchs beschreibt beispielhafte Endzeiten. Acht verschiedene Versionen des Weltuntergangs werden auf jeweils drei oder vier Seiten dargestellt - jeweils mit einem Beispielmonster, einem Beispielzauber und einem Beispiel-Mythoswerk. In den acht Beispielen findet man Erwartetes und Unerwartetes. Wenn die Kampagne „In Nyarlathoteps Schatten“ schlecht ausgeht und die Spielercharaktere versagen, was würde dann mit der Welt passieren? „Apocalypse 2“ hat die Antwort. Oder wie wäre es, wenn die Spielergruppe beim Durchspielen von „Berge des Wahnsinns“ versagt? Wie die Welt danach aussehen könnte, beschreibt „Apocalypse 3“. Feuer regnet vom Himmel. Schattenwesen beherrschen die Menschheit oder die Abkömmlinge Yog-Sothoths überrennen die Welt. Die Beispielsettings sind schön zu lesen, aber relativ kurz, wenn man bedenkt, dass sie eine ganze Welt abbilden sollen. Dennoch werden viele Spielleiter gute Ideen darin finden.

„Apocthulhu“ bietet aber auch ein längeres Setting, erdacht von Kevin Ross, einer prägenden Figur in Sachen Cthulhu-Rollenspiel. Das Setting basiert auf dem Roman „The Night Land“ von William Hope Hodgson. Es scheint erstaunlich, dass der Roman noch nie zu einem Rollenspiel gemacht wurde. Grund ist vielleicht die Tatsache, dass er durch seine auf altmodisch getrimmte, schwurbelige Sprache nur schwer zugänglich ist. Die deutsche Übersetzung gibt es meines Wissens nur noch antiquarisch. Es gibt moderne Nacherzählungen des Romans, und Ross legt dem Leser nahe, mit diesen ins Thema einzusteigen.

Die Mühe lohnt sich, denn ich habe kaum eine fantastischere Welt gesehen. Millionen Jahre in der Zukunft ist die Sonne verblasst und die Menschheit lebt in einer riesigen Pyramide, die nur durch eine sie umgebende von der „Earth Current“ gespeisten Aura vor den „Watchers“ beschützt wird – cthuloide Wesen, wie sie im Buche stehen. Sie sind groß wie Berge und beobachten die Pyramide feindselig, während sie still warten. Außerhalb der Pyramide geht es generell menschenfeindlich und böse zu. Monster verschiedener Größe lauern allen Menschen auf, die es wagen den Schutz zu verlassen.

Auf ca. 40 Seiten beschreibt Ross das Setting, versieht die Monster mit Werten, gibt eine Zusammenfassung des Romans und Tipps für das Spiel. Es gibt viel zu entdecken und wem das noch nicht reicht, der bekommt von Ross eine Handvoll Abenteueraufhänger geliefert. Für mich ist dieses kleine Settingbuch das Highlight des Spiels und allein den Kauf wert.

Bevor es zu den Anhängen mit Tabellen und Charakterbögen geht, liefert „Apocthulhu“ auf knapp 100 Seiten noch zwei komplette Abenteuer. „Kick in the Can“ spielt in „Apokalypse Nr. 4“ und erweitert die kurze Settingbeschreibung und baut darauf auf. Ein Kult verbreitete sich mithilfe des Interneta und sagte den Weltuntergang voraus. Im Gegensatz zu den üblichen Verschwörungstheoretikern hatte dieser Kult dummerweise recht und Millionen von lebendigen Feuern verwüsteten die Welt innerhalb eines Jahres. Nur die Anhänger des Kultes (und ein paar andere Spinner), die sich in Bunkern in Sicherheit brachten, überlebten den feurigen Weltuntergang. Die Charaktere sind solche Leute und das Abenteuer beginnt, als sie den Bunker nach einem Jahr verlassen. Die Charaktere werden von seltsamen und teils verstörenden Funksprüchen in Richtung eines bestimmten Ziels getrieben. Auf dem Weg dorthin erleben sie merkwürdige Szenen und dort angekommen finden sie sich in einer heiklen Situation wieder, in der eine schwierige Entscheidung getroffen werden muss. All das ist mystisch verpackt und stellt immer wieder spannende Fragen, die die Neugier der Spieler beflügeln sollten. Das Abenteuer ist gruselig und abgesehen davon, dass der SL viel lesen muss, bevor es endlich mit der Handlung losgeht, gefällt es mir recht gut. Besonders hervorzuheben ist, dass auf der Webseite des Verlages Audiohandouts von den im Abenteuer so wichtigen Funksprüchen heruntergeladen werden können (auf Englisch natürlich).

„A Yellow and Unpleasant Land“ spielt in einem viktorianischen England, das es zum Glück nie gab. Ein Theaterstück veränderte die Welt, macht sie „gelb“. Man kann schon erahnen, dass wir es hier mit dem König in Gelb zu tun haben. Die Welt zieht einige Inspiration aus der Parallelwelt, die Robert W. Chamber in seiner „König-in-Gelb“-Geschichte „The Repairer of Reputations“ beschreibt. Es ist keine Apokalypse im eigentlichen Sinn, aber die Welt ist schon ganz schön kaputt. Es gibt fertige Charaktere, die besondere Verbindung zum Setting haben. Ein gruseliges Cthulhu-Abenteuer, das eine völlig andere „Endzeit“ präsentiert und mir sehr gut gefällt.

Man kann das Buch über Drivethrurpg als PDF oder Print-on-Demand-Buch (Hard- oder Softcover) bestellen. Mir liegt das (vom Verlag netterweise zur Verfügung gestellte) PDF des Buchs vor, das vorbildlich über ein klickbares Inhaltsverzeichnis verfügt. Der Druck ist „Premium Color“, was das Buch nicht gerade billig macht, aber meiner Erfahrung nach eine gute Druckqualität liefert. Cover, Logo und Innengestaltung wirken etwas „altbacken“, gefallen mir aber gut, nachdem ich inzwischen etwas Zeit hatte, mich daran zu gewöhnen. Die breite, bunte Seitenumrahmung lenkt etwas vom Text ab und macht die ohnehin schon „hektische“ Seitengestaltung noch chaotischer, aber irgendwie passt das zum Thema und sieht gut aus. Die Bilder habe ich teilweise schon einmal in anderen Veröffentlichungen gesehen, sind aber größtenteils sehr gut (und könnten ab und zu besser zum Text passen). Insgesamt ist es ein hübsches Buch, auch wenn es nicht an den Standard heranreicht, den ich sonst von „Cthulhu Reborn“ gewöhnt bin.

Fazit: „Apocthulhu“ ist ein vollständiges Regelwerk für ein Spiel, nachdem der Cthulhu-Mythos gewonnen hat. Die Regeln sind bekannt genug, um sofort vertraut zu sein (wenn man das klassische Cthulhu kennt), bieten aber ein paar neue Kleinigkeiten, die sich sehr gut ins Genre einfügen. Das Spiel ist ein Baukasten, der es ermöglicht sich eine eigene Apokalypse zu erschaffen und bietet dafür Tipps, Beispielwelten und alles, was man sonst so braucht. Dabei weicht es immer wieder angenehm vom klassischen „Alles ist kaputt und wir haben nichts zu essen“ ab. Zwei komplette Abenteuer in verschiedenen Welten ermöglichen schnelles Losspielen und eine ausführliche Weltbeschreibung bietet ein greifbares und ungewöhnliches Beispiel. Ein tolles Buch für Cthulhufans.

Apocthulhu
Grundregelwerk
Dean Engelhardt, Jo Kreil, Kevin Ross,
Jeff Moeller, Chad Bowser, Dave
Sokolowski, Christopher Smith Adair, Fred Behrendt, Emily O’Neil
www.cthulhureborn.com 2020
330 S., versch. Formate, englisch
Preis: $ 22,95 (PDF), $ 46,95 (Softcover), $ 60,66 (Hardcover)

[Die Rezension wurde für den Ringboten erstellt. Der Verlag stellte mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung.]

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